Die Welt steht Kopf

Ich liebe starke und imposante Bühnenprogramme mit kreativen, professionellen und auch überraschenden Elementen. Sei dies beim Konzertbesuch, als Teilnehmer einer Tagung oder eines Kongresses und selbst im Gottesdienst lasse ich mich gerne von einer frischen, qualitativ hochstehenden Präsentation ansprechen. Das inspiriert mich.

Neulich war jedoch genau eine andere Form das, was mir in der Situation gut tat: Ein schlichter Taizé-Gottesdienst ohne Band – dafür mit beruhigenden Flötenklängen, ohne üppiger Deko. – dafür mit angenehmem Kerzenlicht, ohne Präsentation – dafür mit unaufdringlicher Leitung mit der Einladung, sich von den Liedern und Texten ansprechen zu lassen.

Es sind zwei komplett unterschiedliche Dinge, die ich beide sehr schätze und auf keinen Fall gegeneinander ausspielen will – genau die Ergänzung sind für mich wertvoll: Vielleicht passt hier wieder einmal das Bild von «Wurzeln und Flügeln» ganz gut.

Ein schlichter Taizé-Gottesdienst erinnert mich an meine Wurzeln. Es sind Texte und Lieder, die mich geborgen im Glauben an den liebenden Gott, in dem ich beheimatet bin, ruhen lassen.

Mehr als eine Dose Red Bull verleiht mir auf der anderen Seite ein starkes Programm Flügel: Es fordert mich heraus, den guten Wurzeln des Glaubens auch Taten folgen zu lassen. Ein gutes Programm – ob jetzt in einem christlichen Setting oder auf einer politischen Konferenz – ist für mich dann gut, wenn es mich kulturell abholt und mich inspiriert, selber aktiv zu werden und etwas zu bewegen.

Für mein Leben in dieser verrückten Welt – Corona war gestern, heute ist Krieg in Europa – brauche ich unbedingt Wurzeln und Flügel: Ich will mich in etwas Grösserem aufgehoben und getragen fühlen, gleichzeitig will ich in aller Ohnmacht und Komplexität des Lebens auch erfahren, wie ich mich an meinem Ort in kleinen Schritten für die gute Sache einbringen kann.

Anders ausgedrückt: Ich will nicht jeden Sonntag «bloss» daran erinnert werden, dass Gott es gut mit mir meint und mich auch in der grössten Not des Lebens trägt. Ich will auch mal herausgefordert werden mit der Frage, was es in meinem Leben heissen könnte, diesem Jesus nachzufolgen und diese Welt in seiner Kraft zu einem besseren Ort zu machen – mit mehr Liebe und weniger Hass.

Und natürlich will ich anderseits auch nicht andauernd hören, was ich tun könnte, sondern brauche die erfahrbare Gewissheit, dass ich in Gottes Händen gut aufgehoben bin.

Meine Welt steht Kopf

Wie ich schon im letzten Blogartikel (Das Leben auf der Achterbahn) durchblicken liess, steht derzeit nicht nur die grosse Welt um mich herum Kopf, sondern auch in unserer kleinen Familienwelt sind wir gerade arg herausgefordert. Nach einem längeren gesundheitsbedingten Ausfall wurde unserem Sohn der Ausbildungsplatz gekündigt, just in dem Moment, als er sich dank professioneller Hilfe auf sein Comeback vorbereitete und dem Arbeitgeber seinen Plan für den Wiedereinstieg präsentieren wollte. Wir teilen jetzt erst recht mit vielen anderen die Erfahrung: Arbeiten in einem sozialen Job kann alles andere als sozial sein …

Eine Kündigung kommt selten alleine. Jedenfalls musste ich auch gleich noch den Ausstieg eines sehr wertvollen Mitarbeiters zur Kenntnis nehmen.

Und da kam eben der eingangs geschilderte Taizé-Gottesdienst genau richtig: Eine schlichte Feier in einer kleinen Gemeinschaft. Die meisten Leute kannte ich nicht, aber der schönen Stimme meines Sitznachbarn zu lauschen und mich dadurch daran erinnern zu lassen, dass Gott genau jetzt oben, neben und unter mir ist – das brauchte ich.

«In deiner Hand steht meine Zeit» war so eine Liedzeile, die mich meine Wurzeln spüren liess. Und es war nachhaltig! In den Tagen und inzwischen Wochen nach dieser Feier erinnere ich mich fast Mantra mässig immer wieder daran: Meine Zeit steht in seinen Händen.

Wo ist Gott, wenn die Welt Kopf steht? Warum können einzelne Machthaber wie Putin so viel Leid anrichten und Leben zerstören? Warum lässt Gott das zu?

Glaub mir: Ob meine kleine oder unsere grosse Welt Kopf steht, die Frage «Gott, was soll das?» ist ein ständiger Begleiter.

Und trotzdem will ich an meinen Wurzeln festhalten: Da ist ein liebender Gott.

Glücksaufgabe

Was hilft dir in Situationen, in denen deine Welt Kopf steht? Und welche Wurzeln tragen dich, wenn das Chaos in der Welt überhand nimmt?

Wegschauen?

Wie geht es dir mit all den Katastrophen auf der Welt? Mich machen sie ziemlich ohnmächtig und die ganze Corona-Situation macht es nicht einfacher.

Einmal mehr wurde ich vom  Magazin Family und FamilyNEXT gefragt, wie ich damit umgehe, was mir hilft, wenn ich mich ohnmächtig gegenüber den Katastrophen fühle.

Hier meine Antwort:

Was mir gegenwärtig hilft? Ganz ehrlich? Wegschauen! Rückzug in meine kleine „heile Welt“. Na klar, die ist ja auch nicht immer so heil, doch die Probleme in meiner kleinen Welt – Reisebeschränkung wegen Corona, Badeverbot wegen Hochwasser, kein Frischbrot im Regal kurz vor Ladenschluss – sind ja vergleichsweise wirklich kleine Probleme, schon fast lächerliche.

So einfach und bequem der Rückzug in meine kleine Welt scheint, so unbefriedigend ist er auf der anderen Seite: Was gibt mir das Recht, mein geschenktes Leben in einem privilegierten Teil der Welt – und dazu noch an einem der schönsten Flecken – zu geniessen, während anderswo Menschen zuschauen müssen, wie Flammen oder Fluten ihre ganzes Habe innert Sekunden zerstört? Oder Menschen tagtäglich unter Armut, Hunger, Ungerechtigkeit zerbrechen? Die Liste liesse sich beliebig erweitern – Syrien, Afghanistan, Haiti …

Und dann kommt sie, die Ohnmacht. Ich fühle mich wirklich ohnmächtig den Katastrophen dieser Welt gegenüber. Ob Naturkatstrophen, Kriege oder die riesige Ausbeutung von Mensch und Natur – was kann ich da schon tun? Noch schlimmer: Mit meinem mitteleuropäischen Lebensstil bin ich sogar Teil vom Problem. Doch Gott hat uns beauftragt, Teil der Lösung zu sein.

Ich will mich der Ohnmacht stellen, statt wegzuschauen. Ich will im Kleinen beginnen, Teil der Lösung zu sein, statt den Kopf in den Sand zu stecken. Das ist mein Anfang. Und dann will ich herausfinden, wie ich die drei grossen göttliche Aufträge in meinem Leben umsetzen kann:

1. Bebaut und bewahrt die Erde! (1. Mose 2,15)
2. Liebe Gott und deine Nächsten wie dich selbst! (Markus 12,30f)
3. Machet zu Jüngern alle Völker! (Matthäus 28,19).

Und wenn ich meine Verantwortung wahrnehme, darf ich auch mit gutem Gewissen meine kleine Welt geniessen.

Dieser Artikel ist zuerst als Kolumne in der Rubrik „Das hilft mir, wenn …“ im Magazin Family und FamilyNEXT erschienen.  

Glücksaufgabe

Und was hilft dir im Blick auf das aufkommende Ohnmachtsgefühl bei all den Katastrophen? Wegschauen? Rückzug? Aktivismus?

Ich möchte echt häufiger Teil der Lösung als Teil des Problems sein. Und dies beginnt wohl mit dem ehrlichen, unbequemen Blick in den Spiegel.

Aber Achtung: Der Weg zum Ziel ist lang! Darum lass uns einen kleinen Schritt nach dem anderen gehen. Die Folge wird Glück für viele statt für wenige sein.