Das Leerbuch

Neulich lernte ich Rolf Marti kennen. Das war ein Vergnügen. Da war einerseits sein Konzert (Programm «zwöierlei» zusammen mit Ädu Trubädur Baumgartner) – ein kultureller Leckerbissen, der im vollbesetzten H2 für eine heitere Stimmung sorgte. Nachdenkliches und Humorvolles reichten sich die Hand. Grad wie im richtigen Leben abseits der Bühne.

Anderseits war da die persönliche Begegnung mit einem spannenden Menschen. Ein Geschichtenerzähler, Philosoph und Ästhet in einem. Leider war die Zeit an der wunderBar nach dem Konzert etwas knapp, um dem tiefschürfenden Philosophieren über die Welt im Allgemeinen und das Leben im Speziellen den gebührenden Raum zu geben.

Dafür hat mir Rolf sein «Leerbuch» als Erinnerung dagelassen. Ein Büchlein, das hält, was es verspricht: «Die reine Leere» enthält rund 80 Seiten vollständiger Leere. Worte sucht man vergebens, auch keine Karos sind zu finden und sogar Linien fehlen in diesem Büchlein.

«Die reine Leere» von Rolf Marti ist eine Einladung zum Selberdenken. Mir gefällt diese Art Humor: Zuerst ist es irritierend, dann lustig und schlussendlich bringt es einem (hoffentlich) zum Nachdenken.

Ja, wie gehen wir mit all den Menschen um, die für sich in Anspruch nehmen, «DIE» Wahrheit, die «reine Lehre», gepachtet zu haben?

Oder mit Menschen, die eben etwas kleinkariert in jeder Situation wissen, was richtig und falsch ist?

Zum wundervollen, minimalistischen Leerbuch passt, was ich dieser Tage bei einem anderen Marti, bei Lorenz Marti, gelesen habe:

Die Sprache (…) kennt zwar Lebensfragen –
aber keine Lebensantworten. (…)
Lebensfragen stehen keine
Lebensantworten gegenüber.
Diese Stelle bleibt leer.

Lorenz Marti gibt zu bedenken, dass wir im Duden das Wort Lebensantworten vergebens suchen – und dass uns dies etwas zu sagen hat.

Wir machen es uns zu einfach, wenn wir meinen, auf die grossen Fragen des Lebens gebe es einfache, allgemeingültige «Lebensantworten».

Den grossen Fragen nachzuspüren, nach Gott und Sinn zu fragen, ist gut und gehört zum Menschsein. Diese Suche hat sogar etwas Völkerverbindendes, weil wir unabhängig unserer Herkunft ähnliche Fragen stellen.

Und genau dafür ist gerade so ein «Leerbuch» super hilfreich: Wir können unsere Fragen und Gedanken festhalten. Betonung auf «unsere». Weil unsere Antworten immer individuell, biographisch und kontextabhängig bleiben.

Natürlich dürfen wir voneinander lernen, gemeinsam Fragende sein – unbedingt sogar! Gemäss Lorenz Marti ist es die Aufgabe der Religion, uns mit unseren existenziellen Fragen nicht alleine zu lassen, «ohne abschliessende Antwort zu erwarten».

Besser ist es, Mut zu machen, mit unseren Fragen unterwegs zu sein, in Kontakt zu bleiben.

Und so bekommt das Ganze für mich in einer superkomplexen Welt etwas Befreiendes: Ich kann und muss nicht auf alles eine Antwort haben. Wichtiger ist «die Bereitschaft, mit den Fragen zu leben» (Lorenz Marti in «Türen auf»).

Glücksaufgabe

Welche Fragen würdest du in deinem «Leerbuch» notieren?

Und wie gut gelingt es dir, wenn Fragen offenbleiben oder statt Antworten sogar noch mehr Fragen dazukommen?

Wo erlebst du das Glück, nicht auf alles eine Antwort haben zu müssen?

Übrigens: Das Leerbuch kann direkt beim «Autor» für 5 Franken bestellt werden.

Mutig weiterstolpern

Im Februar habe ich hier im Blog schon darüber geschrieben, dass das Jahr für uns als Familie ein regelrechtes Auf und Ab war (Das Leben auf der Achterbahn und Die Welt steht Kopf). Auch in meiner Kolumne im Magazin Family und FamilyNEXT habe ich unsere familiäre Situation zum Thema gemacht. Die Fragestellung war wie zugeschnitten auf unsere Situation: Das hilft mir, wenn ich daran zweifle, dass Gott es gut mit mir meint?

Schon mehrmals habe ich erlebt, dass Gott endlich ein Gebet erhört hat und wir voller Freude und Dank nächste Schritte in Angriff nahmen – bis dann der Schock kam: Was gerade noch eine Gebetserhörung und Traumerfüllung war, entpuppt sich plötzlich als Albtraum.

Anfangs Jahr haben wir eine solch schmerzliche Erfahrung gemacht: Unserem Sohn wurde zusammen mit dem Praktikumsjahr schriftlich eine anschliessende Ausbildung (Lehre) zugesagt, erst noch in seinem Wunschbetrieb. In den letzten Monaten war er längere Zeit arbeitsunfähig und als wir den Wiedereinstieg mit dem Ausbildungsbetrieb besprechen wollten, kam der Schock: Die Lehrstelle wurde entgegen der Abmachung zurückgezogen.

Gott, was soll das?!

In solchen Momenten sind die Zweifel schnell da. Aber ich weiss gar nicht genau, an was ich zweifle: An uns als Eltern? An Gott? An unserem Sohn? An den Mitmenschen?

Manchmal verzweifle ich fast an der Komplexität des Lebens. An einen guten Gott zu glauben, fällt mir nicht so schwer. Aber die Achterbahnen des Lebens auszuhalten dafür umso mehr: Wenn ich auf dem Höhepunkt schon den nächsten Tiefschlag zu erwarten habe, wie soll ich mir da die Lebensfreude bewahren? Fühle ich mich zu gut, lauert bestimmt hinter der nächste Ecke wieder ein Dämpfer.

Nein, ich wehre mich gegen eine solche destruktive Gedanken- und Gefühlswelt. Es gelingt mir bei weitem nicht immer. Doch ich will fröhlich und mutig meinen Weg gehen. Und dabei ringe ich mit meinem Gott, fordere ihn schon mal heraus. Wenn er das Beste für uns will, wie kann es denn zu all den Rückschlägen kommen?

Ich weiss nur, dass zum Glauben auch Zweifeln gehört. Ohne Zweifel kein Glaube. Glauben ist eben keine Wissenschaft, sondern eine Lebensschule: Ringen, hoffnungsvoll Neues wagen, umfallen, Chancen packen, Herausforderungen meistern, Enttäuschungen wegstecken, Fragen aushalten.

Und wenn es sein muss, darf ich auch an Gott und am Leben zweifeln. Solange ich daran nicht „verzweifle“, nicht zu Grunde gehe. Mir hilft aktuell ganz besonders, dass liebe Menschen mit uns leiden und wir die Zweifel gemeinsam aushalten.

Dieser Artikel ist zuerst als Kolumne in der Rubrik „Das hilft mir, wenn …“ im Magazin Family und FamilyNEXT erschienen.  

Glücksaufgabe

Wo zweifelst du aktuell im Leben und vielleicht auch in deinem Glauben? Und was hilft dir, daran nicht zu verzweifeln (zu zerbrechen)?

Meine Osterpredigt an der gms Matinée handelte von Gelassenheit im Sturm. Dazu gab es – inspiriert von der Bergpredigt und vom Buch Tänzer und Stolperer von Bernhard Ott – Impulse dazu, wie wir vom Stolperer zum Tänzer werden können. Die Predigt gibt’s hier zum Nachhören.

Beschenkt im Unterwegssein

Es gibt da rund um Ostern diese Geschichte von zwei Männern aus dem Freundeskreis von Jesus, die von Jerusalem nach Emmaus unterwegs waren – voller Irritation und Enttäuschung, Trauer und Mutlosigkeit.

Aus irgendeinem Grund liebte unser Sohn diese Geschichte in seiner Kinderbibel ganz besonders, immer und immer wieder wollte er, dass wir ihm genau diese Geschichte erzählten.

Und tatsächlich: Es ist eine wunderschöne Geschichte, die auch uns heute viel mitgeben kann.

Am Ziel angekommen, sagen die beiden Freunde zueinander: »Brannte nicht unser Herz in uns …?« Oder in einer anderen Übersetzung heisst es: »Hat es uns nicht tief berührt …?«.

Ich sehe sie vor meinem inneren Auge, wie sie sich niedergeschlagen auf ihre Wanderung machen. Am Ziel angekommen, dann wenn ich müde von den Anstrengungen wäre, sprang ihr Herz vor Freude – so sehr, dass sie – wenn sie denn heute leben würden – sofort eine Insta-Story gepostet hätten und in ihrer WhatsApp-Chatgruppe »Follower of Jesus« geschrieben hätten: »Ihr glaubt nicht, was uns gerade passiert ist …«.

Da sich die Geschichte aber vor rund 2000 Jahren abspielte, blieb ihnen nichts anders übrig, als nochmals die mehrstündige Wanderung unter ihre Füsse zu nehmen, um ihre Freude mit ihren Freunden teilen zu können.

Als Weggemeinschaft unterwegs

Was ist geschehen? Was war der Grund für diesen frappanten Stimmungswechsel?

Die beiden Freunde, auch Emmaus-Jünger genannt, sind also traurig, irritiert und voller Fragen unterwegs. Sie reflektieren die Geschehnisse der letzten Tage: Eben noch – gerade mal eine Woche ist es her – wurde ihr Freund und Rabbi Jesus triumphal als König in Jerusalem willkommen geheissen, nach intensiven Tagen genossen sie eine feierliche Mahlzeit mit dem gemeinsamen Abendmahl; dann ging es Schlag auf Schlag – Verhaftung von Jesus, (Schein)Verhör, Anschuldigungen des manipulierten Mobs, Misshandlung, qualvoller Weg nach Golgatha, Leiden am Kreuz, letztes Aufschreien ihres Lehrers, Tod.

Aus und vorbei. Tod ihres Freundes, Tod einer Bewegung, Tod einer Hoffnung.

Zu allem Übel dazu wurde nun auch noch der Leichnam gestohlen; das Grab ist leer, voll sind dafür Kopf und Herz der zurückbleibenden Freunde: voller Irritation, Verunsicherung und Fragen.

Das kommt mir bekannt vor: Für mich bleibt das Leben immer wieder ein Rätsel. Dann geht es mir wie den beiden Emmaus-Jünger – traurig, irritiert, voller Fragen.

In dieser Gefühlslage sind sie also auf ihrem Weg unterwegs. Plötzlich schliesst sich eine dritte Person dieser fragenden Weggemeinschaft an. Es ist Jesus selbst, der Auferstandene. Nein, sein Leichnam wurde nicht gestohlen, er ist nicht (mehr) tot, die Hoffnung lebt, die Bewegung wird sich von jetzt an über die ganze Welt ausbreiten wird selbst 2000 Jahre später eine wachsende Bewegung sein.

Doch von all dem wissen die Freunde noch nichts, sie erkennen nicht einmal ihren Freund Jesus. Im Gegenteil, schon fast überheblich sagen sei zu ihm: «Du bist wohl der Einzige, der nicht versteht, was hier gerade abgeht!?».

Doch, doch, das tut er schon. Aber es gehört zu seiner Art, dass er sich erst mal den Fragen der Emmaus-Jünger annimmt, zuhört, bevor er spricht. Und dann hilft er ihnen die Zusammenhänge zu erkennen, ganz am Ende der Begegnung gibt er sich zu erkennen. Jetzt gibt es für die Freunde kein Halten mehr: Ihr Herz springt vor Freude. Jesus lebt! Das müssen sie sofort Petrus und den anderen erzählen … Mit neuer Kraft und Zuversicht machen sie sich beschwingt nochmals auf den Weg.

Genau wie die Emmaus-Jünger wünsche ich mir, mit den Menschen um mich herum als «Weggemeinschaft» dem Geheimnis des Lebens und Glaubens auf die Spur zu kommen. Und dies ganz im Jesus-Stil: Zuhörend, nachfragend, liebevoll, nicht verurteilend, fragend, suchend, offen.

Die Rätsel unserer Zeit mögen gross sein.

Die Verunsicherung dieser Tage mag gross sein.

Deine persönlichen Herausforderungen mögen gross sein.

Noch grösser bleibt das Wunder von Ostern:
Jesus hat den Tod besiegt.
Alles Quälende wird nicht das letzte Wort haben.
Weil das letzte Wort ein gutes Wort sein wird.
Denn: Jesus lebt!

Der Auferstandene möchte auch heute in uns leben und Teil unserer Weggemeinschaft sein!

Frohe und gesegnete Ostern!