Gemeinsam falsch

Das war eindrücklich: Vor einigen Wochen war ich zusammen mit meiner Tochter und ihrer Partnerin erstmals bei einem Hiking Sounds Event, dem Wanderfestival der Migros, dabei.

Das war ein schönes Erlebnis – gemeinsam Wandern, Cervelat grillieren, guten Live-Sound geniessen.

Aber nein, der Anlass an und für sich war noch nicht das Eindrückliche. Das war vielmehr ein Phänomen unterwegs beim Wandern. Wir schwitzten uns also am letzten Spätsommertag bei sehr warmen Temperaturen beim Schwarzsee den Berg hinauf.

Irgendwo da oben, hinter der Kuppe muss der Rastplatz mit Bühne und den Cervelats sein. Das war allen klar. Nun kam irgendwer auf die glorreiche Idee, dass der Trampelpfad geradeaus bestimmt schneller zum Ziel führen würde als der breite Weg um die Kuppe herum.

Und so folgten nun alle Wandernden dieser Menschenschlange den Trampelpfad hinauf.

Alle? Nicht alle!

Es gab einige wenige, die das Selberdenken nicht gänzlich aufgaben und so dem eigentlichen Weg folgten. (Und ja, wir gehörten dank dem kritischen Nachfragen – und vehementen Insistieren – meiner Tochter auch zu denen, die sich von der grossen Masse entfernten. Wenigstens nach einigen «Fehltritten» auf dem Trampelpfad.)

An diesem wunderschönen Tag in dieser idyllischen Landschaft wurde ich eindrücklich an eine wichtige Lektion erinnert: Nur weil alle einen bestimmten Weg einschlagen, ist es nicht zwingend der richtige.

(Und liebe fromme Bubble: Manchmal ist selbst der schmale Weg nicht der richtige! Das wurde uns auf diesem gemütlichen, breiten Spazierweg ganz schnell bewusst.)

Diese Situation am Berg war lustig und sie kam mir sofort wieder in den Sinn, als ich diese Tage ein überhaupt nicht lustiges, fiktives Interview im Buch Seit ich tot bin, kann ich damit leben: Geistreiche Rückblicke ins Diesseits von Willi Näf las: Hier wird Lutz Baumgartner, ein SS-Obersturmführer, gefragt, warum er der SS beigetreten sei.

Weil ich jemand sein wollte. … Hitler hat die Löcher in unserer Seele gestopft, und wir sind ihm hinterhergestiefelt. Was waren wir dumm.

Auch intelligente Leute waren Nazis.

Dummheit und Intelligenz sind keine Gegensätze. Es gibt intellektuell ausserordentlich bewegliche Menschen, die dumm sind, und intellektuell sehr Schwerfällige, die alles andere als dumm sind.

Das ist eine Frage der Definition.

Keineswegs. Menschen lassen sich von Umständen verdummen. Wo sich eine starke Macht entfaltet, werden sie mit Herdendummheit geschlagen. In der Dynamik der Herde verliert man das selbständige Denken. Wenn alle gleich blöken, hört sich das Blöken plötzlich richtig an. Man sieht nur noch, was alle sehen, und findet nur noch richtig, was alle richtig finden.

Wie wurden Sie herdendumm?

Naja. Erst mal ist man einfach begeistert. Die Menge gibt einem Wärme, man fühlt und findet sich bestätigt. Man wird Teil von etwas Grösserem. Es kommt zu einer Art Selbstabschaltung. Ein dünnes Selbst wie meines vermisst nicht allzu viel, wenn es abgeschaltet wird. Wenn man dann im Kollektiv aufgeht, ist man endlich wer. Und die Anfangskleinsten wollen immer die Schlussgrössten werden.

(Quelle: Willi Näf in Seit ich tot bin, kann ich damit leben: Geistreiche Rückblicke ins Diesseits)

Mich schaudert es ob der ungeheuerlichen Aktualität dieses Textes. Mag sein, dass Gedanken zur Herdendummheit immer aktuell sind. Doch gerade scheint mir, als würde sich dieses Phänomen politisch, gesellschaftlich und religiös in beängstigenden Dimensionen entfalten.

Glücksaufgabe

Wo beobachte ich das Phänomen der Herdendummheit? Und wo stehe ich persönlich in Gefahr, der Masse (ob auf dem breiten Weg oder dem schmalen Trampelpfad) zu folgen und dabei das Selberdenken der Bequemlichkeit zu opfern?

«Bonus-Frage»: Wie stopfe ich die Löcher in meiner Seele?

3 Antworten auf „Gemeinsam falsch“

  1. Wenn eigene Familienangehörige damals zu Tätern wurden, bekommt die Frage, ob es um Herdendummheit, Löcher in der Seele oder einfach nur Machtbesessenheit auf Kosten der Menschlichkeit, ging, noch eine andere Dimension – und die Entwicklung der Weltlage macht anders Angst. Gut dann zu wissen, dass es nicht nur an der Familiengeschichte liegt, dass solche Fragen bewegen – und Verbundenheit des kritischen Blicks hilft, gemeinsam passende Wege zu finden.

  2. Was mir auffällt und zugegeben auch beschäftigt ist, dass in unserer zunehmend extrem polarisierten Welt „beide Seiten“ diese (oder ähnliche) Argumentation (Narrative) sehr oft aufführen und nutzen.

    Das war in der Pandemie zu beobachten und nun auch in Diskussionen bezüglich den umwälzenden globalen politischen Ereignissen und Tendenzen.

    Spezifische höre ich diese Argument gerade von evangelikalen Christen, die diverse (für mich eher äusserst bedenkliche) Entwicklungen in den Staaten als Erweckung einstufen. Dies Einordnung ist aus meiner Sicht eher absurd wenn nicht gar pervers.

    Mein Standpunkt wird oft als „schwimmen mit dem Strom“ oder eben wie du es beschreibst als „Herdentrieb“ angesehen. Ich werde oft damit konfrontiert, mein eigenes kritisches Denken aufgeben zu haben und der allgemeinen Haltung (und Berichterstattung der Medien) unreflektiert verfallen zu sein. Dasselbe denke ich über Ihre Sichtweise.

    Dies beobachte ich natürlich nicht nur auf mich bezogen, sondern ganz allgemein in entsprechenden Diskussionen.

    Darum finde ich deinen Hinweis an den Christlichen Bubble – „auch der Schmale Weg kann ein Falscher sein“ – höchst interessant. Für mich löst er die Spannungen aber nicht gänzlich auf – was höchstwahrscheinlich auch ganz gut ist.

    Es scheint in Allem wichtig zu sein, den eigenen Weg, auch wenn überzeugt und entschlossen, dennoch in Demut zu gehen.

    Was denkst du über diesen Ansatz?
    Wie könnte eine solche Demütige Haltung aussehen?
    Hast du ergänzende Gedanken?

    1. Danke, Sam, für deine guten Gedanken.

      Ja, unbedingt, die demütige Haltung sollten wir immer wieder suchen. Nur so können wir uns auch überraschen lassen und unsere vorgefertigte Meinung allenfalls revidieren.
      (In diese Richtung ging auch mein letzter Blogartikel: https://xn--glck-finden-uhb.ch/2025/09/das-kann-doch-nicht-sein/)

      Und nein, die Spannung lässt sich nicht auflösen. Wie sagte mir jemand diese Woche ganz pragmatisch: Wenn es so klar wäre (wie man als Christ:in zu denken hat, zB), müssten wir ja auch nicht mehr darüber sprechen – es wäre einfach klar.

      Vieles ist eben nicht so klar … und darum sollten wir das Selberdenken (in Demut) und das gemeinsame Ringen (ohne einander den Glauben/die Würde/die Berechtigung abzusprechen) auf keinen Falls aufgeben.

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