Das kann doch nicht sein!?

Ich bin irritiert. Kann es sein, dass ich mit meinem Vorurteil falsch liege?

Im kath.ch-Medienspiegel werde ich auf einen Weltwoche-Artikel von Roger Köppel hingewiesen. Darin lässt er den Theologen Karl Barth und den Aktivisten Charlie Kirk in einen fiktiven Dialog treten.

Mein Interesse ist geweckt, einerseits weil ich vor einigen Monaten die spannende Karl Barth-Biografie von Christiane Tietz las, anderseits weil mich die emotionale Freund-/Feind-Diskussion um die Ermordung von Charlie Kirk sehr beschäftigt.

Dass Roger Köppel etwas dazu zu sagen hat, erstaunt mich nicht. Was er sagt und wie er es tut, verblüfft mich dann doch.

Raffiniert bringt er Kirk in ein theologisches Gespräch über Gott, Moral und Politik mit Barth. Wohlwollend im Ton, hinterfragend im Inhalt: Instrumentalisierst du nicht Gott für deine eigenen Zwecke?  

Ich lag falsch: Köppel entpuppt sich hier nicht als Kirk-Freund.

Und schon merk ich, wie schnell ich zwar gerne Brückenbauer sein möchte, und gleichzeitig dann doch sehr schnell im Freund-/Feind-Schema gefangen bin.

So vieles wird heute zugspitzt – rechts-links, richtig-falsch, gut-böse. Es lebe die Polarisierung und mit ihr die Feindbilder.

Darf ich zugeben, dass mich ein Artikel von Roger Köppel anspricht? Und wenn ja, muss ich dann gleich hinterherschieben, dass ich also sonst das Heu gar nicht auf seiner Bühne habe?

Die trumpische MAGA-Kommunikation ist schnell (im Urteilen), laut (IN FETTEN LETTERN) und klar (komplexe Zusammenhänge werden vereinfacht dargestellt).

Da stehen wohlüberlegte, leise und differenzierte Töne in Gefahr unterzugehen.

Und natürlich befeuern die heutigen Kommunikationsmittel eine Giftpfeil-Rhetorik, echter Dialog mit echtem Interesse am Gegenüber sucht mensch in den Kommentarspalten allermeistens vergebens.

Ganz ehrlich, das Beispiel mit dem ansprechenden Artikel von Roger Köppel hält mir da einen unbequemen Spiegel vors Gesicht: Ich warte nur darauf, dass meine Vorurteile bestätigt werden. Mitmenschen werden gedanklich in Schubladen parkiert. Wer nicht in meiner Schublade, in meiner Bubble ist, hat es schwer, mich zu überzeugen.

Wir haben mehr und mehr gelernt, sofort das Trennende zu entdecken.

Ich will mich auf das Wagnis einlassen, in Begegnungen zuerst das Verbindende zu suchen. Ob mir das gelingen kann? Ich weiss es nicht. Doch ich danke Roger Köppel dafür, dass er mich überrascht hat.

Der lesenswerte Artikel legt Karl Barth zum Schluss diese wunderbaren Worte in den Mund:

Trinken wir auf uns, auf die Kinder Gottes und auf das unbegreifliche Geschenk der Gnade, das wir beide nicht verdient haben. Wir alle sind geliebt von Gott, auch Sie, aber nicht, weil Sie sein Anwalt, sein Durchschauer sein wollen und ruhelosen Einsatz leisten, sondern weil er Sie, wie andere, die Sie gar nicht kennen, ohne ersichtlichen Grund als Vollmitglied in seinen Heilsplan einbezieht.

Zusammen ein Kafi, Bier oder Wein trinken – das verbindet. Tischgemeinschaft hat einfach eine andere Wirkung als Facebook-Kommentare!

Das Leben und die Liebe als unbegreifliches Geschenk zu entdecken und entfalten – auch das verbindet. Mit dem Göttlichen, miteinander. Nicht weil ich Recht habe, nicht weil ich die Wahrheit kenne, nicht weil ich geleistet habe.

Geliebt. Weil ich bin, nicht weil ich tu.

Ich. Und du auch!

Wir. Die Menschheitsfamilie.

Glücksaufgabe

Wie gut bist darin, dich von Menschen aus einer anderen Bubble positiv überraschen zu lassen?

Wie wäre es, im Gegenüber zuerst das Verbindende statt das Trennende zu suchen?

«Dieser Weg …»

Genau – «… wird kein leichter sein.»

Trotzdem – ich will ihn gehen.

Weil ich zu oft schon erlebt habe, dass der Weg zwar nicht leicht ist, gleichwohl lebendig macht. Weil er das Leben fördert – und nicht ein starres Denk- und Glaubenssystem.

Weil ich auf diesem Weg zwar unendlich gefordert bin – und trotzdem entspannt und gelassen vorwärtsgehe.

Weil dieser Weg keinen Autopiloten kennt und die Route ständig neu berechnet wird – und dennoch ist es ein verheissungsvoller Weg der Hoffnung.

Es ist gut, auf einem Weg zu sein.
Es ist auch gut, sich dabei nicht zu fest an ein Geländer zu klammern. Vor allem aber ist es gut, mit anderen Menschen unterwegs zu sein: Erfahrungen und Einsichten zu teilen, voneinander zu lernen, sich gegenseitig zu fordern und zu fördern. Verbundenheit ist der Pulsschlag aller Spiritualität. Sie belebt, sie wärmt das Herz, und sie stärkt die Gewissheit, in dieser Welt willkommen und zu Hause zu sein.
Lorenz Marti in «Türen auf!»

Im Zuge der Regionalisierung in unserer Kirche hatten wir vor rund zwei Jahren das Format «zäme wyter dänke» ins Leben gerufen. Ziel ist es, anhand eines Buches gemeinsam unsere Theologie und Glaubenspraxis zu reflektieren und dabei eben zusammen weiterzudenken.

Letzten Mittwoch haben wir nun die zweite Runde abgeschlossen. Ich bin mit dem obigen Zitat von Lorenz Marti in den Abend gestartet und habe die Teilnehmenden gefragt, inwiefern sie bei «zäme wyter dänke» einen solchen «Herz wärmenden» Ort erleben.

Die Antworten haben mein Herz erwärmt. Und waren mir Beweis genug, dass sich dieser nicht immer leichte Weg wirklich lohnt.

In einer Zeit, in der sich mensch in politischen, gesellschaftlichen oder religiösen Themen reflexartig in seinen Schützengraben zurückziehen will, erleben wir gemeinsam ein Format, in dem es eben gerade nicht darum geht, wer recht hat, was richtig, was falsch ist.

Wir sind auf einer gemeinsamen Entdeckungsreise, wir interessieren uns dafür, was die andere erfahren hat, wie der andere darüber denkt, wie andere zweifeln und glauben.

Und genau das war bei dieser Einstiegsrunde eindrücklich spürbar: Es wird geschätzt, dass die eigene Meinung ohne Bedenken geäussert werden kann. Und mehr noch: Es wird geschätzt, andere Meinungen zu hören, sich dadurch bereichern zu lassen – und sie vielleicht ins eigene Denken zu integrieren oder beim eigenen Standpunkt zu bleiben. Beides ist möglich, beides ist okay.

Gemeinsam auf dem Weg

Ich liebe es zu predigen und ich liebe es, Talks zu moderieren, in denen andere ihre Storys erzählen.

Doch ich liebe es auch, einfach still zu beobachten, wie in Formaten wie «zäme wyter dänke» Menschen in kleinen Tischrunden ins Gespräch kommen, Erfahrungen und Meinungen austauschen, voneinander lernen, sich unterstützen, ohne sich besserwisserisch zu korrigieren. Eben: Einfach gemeinsam auf dem Weg sind.

Dieser Weg ist kein leichter – denn es heisst auch Kontrolle abgeben. Ich weiss ja nicht, was in den Tischrunden besprochen wird, kann zu Gesprächen animieren, sie jedoch nicht steuern. Auch der Austausch im Plenum will an der einen oder anderen Kliffe vorbei navigiert werden (zB politische Statements).  

«zäme wyter dänke» – das ist ein tolles Format. Doch es ist mehr als das, es ist im Grunde Kern meiner Spiritualität: Gemeinsam auf dem Weg sein. Mein Glaube ist nicht ein System, mein Glaube ist «Weg, Wahrheit und Leben». Göttliche Liebe, die uns auf den Weg zu wahrhaftigem Leben einlädt.

Glücksaufgabe

Gestern sprach ich mit einem Pfarrkollegen über den Zusammenhang zwischen Spiritualität und Gesundheit.

Wo erlebst du Spiritualität als wertvolle Ressource für dein Wohlbefinden?
Wie zeigt sich das?

Bist du alleine auf diesem Weg oder hast du Weggefährt:innen mit dabei?

Das macht mich traurig!

An der Beerdigung meiner Grossmutter schluchzte mein Onkel herzhaft. Das hat mich berührt. Ich kann das nicht. Flennen tu ich sehr selten.

Überhaupt: Meine Frau reagierte sehr erstaunt, als ich ihr davon erzählte, dass ich diesmal für die Family-Kolumne «Das hilft mir, wenn …» über Traurigkeit schreiben soll. «Traurig? Du bist doch gar nie traurig», gab sie zu bedenken.

Das heisst jetzt nicht, dass ich eine immer lächelnde Frohnatur bin. Aber die Emotion Traurigkeit ist tatsächlich weniger Teil meines Repertoires. Wenn sich die Tage bei mir grau anfühlen, hat dies eher mit Enttäuschung oder Frustration zu tun.

Aber es gibt schon etwas, das mich traurig macht: Ob christliche Kirche oder Gesellschaft als Gesamtes – es ist mein Wunsch, dass wir Menschen uns weniger in Grabenkämpfen verlieren, und wir dafür vermehrt zu Brückenbauer werden. Es muss nicht jede und jeder die Welt aus der gleichen Brille betrachten und alle sind eingeladen, ihre eigene Farbe ins grosse Bild der Menschheit einzubringen, doch die Art, wie dies oftmals geschieht, macht mich traurig.

Ich habe recht und du bist ein Idiot

Der Riss mitten durch die Gesellschaft («Social Splitting») nimmt diese Tage eine beängstigende Tiefe an. Die Corona-Pandemie spaltet Familien, Freunde und eben auch uns als Gesellschaft: Anfangs war Nachbarschaftshilfe gross in Mode, doch mit der Zeit ging es mehr und mehr darum, dem anderen das eigene Weltbild aufzudrücken. Und das Covid-Zertifikat bildet das Symbol des gegenwärtigen Tiefpunkts der gesellschaftlichen Spaltung.

Es gibt Fragen – rund um Corona oder auch das in christlichen Kreisen heisse Eisen Homosexualität – die sind so komplex, da hüte ich mich vor einfachen Antworten. Leider finden aber gewisse Menschen sich grundsätzlich kompetent genug, immer und überall besserwisserisch aufzutreten und dann bald mehr Hass als Liebe zu säen.

Das macht mich traurig.

Was mir darin hilft? Emotionen sind die Sprache der Seele. Also will ich erst einmal zuhören: Was will mir diese Emotion sagen? Tagebuch oder Spaziergang helfen mir beim Sortieren. Nach der Reflexion sollte die Aktion folgen. Die Emotion führt dazu, dass ich erst recht von einer besseren (Christen)Welt träume, die von einem liebevollen Miteinander geprägt ist. Und dafür will ich mich einsetzen – ob mit oder ohne Tränen im Gesicht.

Dieser Artikel ist (in etwas gekürzter Version) zuerst als Kolumne in der Rubrik „Das hilft mir, wenn …“ im Magazin Family und FamilyNEXT erschienen.  

Glücksaufgabe

Tatsächlich fällt es auch mir nicht einfach, in Diskussionen immer liebevoll zu bleiben. Die beiden genannten und in der Schweiz sehr aktuellen Themen («Ehe für alle» und Corona-Zertifikat) haben auch bei mir das Potenzial, hohe Wellen zu werfen. Zu beidem habe ich eine klare Haltung, die in gewissen Kreisen nicht gerne gehört wird. Wie schaffe ich es, ruhig meine Argumente vorzubringen ohne mein Gegenüber zu denunzieren?

Ich versuche, meine Überzeugungen und Erfahrungen ruhig in Diskussionen einzubringen – mit der Offenheit, dass ich mich irren kann (weil die Themen ja eben hochkomplex sind) und mein Gegenüber seine unterschiedliche Meinung behalten kann.

Mehr Glück im Leben erfährt, wer nicht immer recht haben muss und wer mit der Haltung «Es ist genug Liebe für alle da» seinen Platz in der Gesellschaft einnimmt.