Auffallen um jeden Preis

Was eine Influencerin ist, wissen wir inzwischen alle. Aber hast du schon mal von «Crimefluencer» gehört?

Mit diesem Begriff wird ein Phänomen bezeichnet, das sich gerade vermehrt bemerkbar macht in der Schweiz: Menschen, die durch Gewalttaten Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen, ihre Straftaten auf Plattformen wie Tiktok stellen und darauf hoffen, «viral zu gehen», mit ihren Videos Reichweite und schliesslich Bermühtheit zu erlangen.

Kürzlich schaffte es der bekannteste Delinquent der Schweiz, der als «Carlos» zu einer Berühmtheit wurde, einmal mehr in die Schlagzeilen: Er wurde von einem anderen «Crimefluencer» provoziert, schlug zu und bald schon war alles online – sogar mit einem Spendenaufruf zur Deckung der Anwaltskosten, inszeniert durch die Freundin des Provokateurs.

Die «NZZ am Sonntag» (12. Mai 2024) widmet dem Fall einen Hintergrundbericht. Der Artikel «Reizen bis aufs Blut» beginnt mit folgenden Worten:

«Ohne Aufmerksamkeit sind Menschen nichts.
Sie verkümmern, sie gehen ein.
Babys würden nicht überleben.»

Diese menschliche Sehnsucht gesehen zu werden, ist völlig natürlich und okay. Die Frage ist, wann unser Wunsch nach Anerkennung in ein fehlgeleitetes Haschen nach Aufmerksamkeit kippt. Wir müssen ja nicht gleich «Crimefluencer» werden, es gibt schon viel früher ungesunde Formen des Strebens nach Aufmerksamkeit.

Ich muss der Beste sein

Einige versuchen mit der auf den ersten Blick rühmlicheren Variante alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen: Ich will immer und überall Bestleistung abliefern.

Je länger ich über diese Version von Haschen nach Aufmerksamkeit nachdenke und Menschen beobachte, die sie ausleben, desto weniger mag mich das zu überzeugen: Zuerst dachte ich, bestimmt ist dieses Getriebensein nach Bestleistungen ziemlich anstrengend und ab einem gewissen Punkt auch ziemlich ungesund für die betroffene Person, doch wenigsten kommt das Umfeld nicht zu Schaden wie bei den «Crimefluencer».

Aber stimmt das? Der Antreiber, immer die Beste sein zu müssen, bedeutet nicht selten auch, die anderen klein zu halten, Konkurrenten irgendwie aus dem Weg zu räumen (das klingt jetzt schon fast nach «Crimefluencer» …).

Und ganz bestimmt leidet das soziale, familiäre Umfeld von Menschen, die immer zu «on the Top» sein müssen.

Dann also doch lieber auffallen mit schlechten Leistungen? Auch das gibt es: Menschen, die aus Angst, irgendwo im Mittelfeld unterzugehen, lieber als Antithese zum Streber leben.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Variante wirklich befriedigend ist. Zudem leidet auch hier das Umfeld, wenn solche Menschen sich als unzuverlässige Mitarbeitende oder Familienmitglieder in Szene setzen.

Gesehen werden – so wie ich bin

Rafaela Roth schliesst den oben erwähnten NZZ-Artikel mit den bedenkenswerten Worten:

«Der Fall zeigt vor allem auch, was für ein hohes Gut die Aufmerksamkeit ist. Jeder Mensch braucht welche. Aber auf der Jagd nach ihr kann man auch verlorengehen.»

Wir Menschen brauchen Aufmerksamkeit, Zuwendung und Liebe. Und wir wünschen uns Orte, wo wir uns zugehörig fühlen. Wir wollen gesehen werden.

Aber was ist das für ein Gesehen werden, wenn ich andauernd eine Rolle als Streberin, Looser oder «Crimefluencer» spielen muss?

Ich wünsche mir, gesehen zu werden, als das, was ich bin: Als Mensch mit seiner Einzigartigkeit, mit meinen Stärken und Schwächen. Nicht Zuwendung erhalten, weil ich leiste, sondern weil ich bin.

Vielleicht bin ich wirklich ein Träumer: In einer Gesellschaft, in der immer mehr Effekthascherei betrieben wird, hoffe ich darauf, dass wir uns diesen Christus zum Vorbild nehmen, der uns bedingungslose Annahme, Zuwendung und Liebe schenkt.

Einmal hat er sogar gesagt: «Kommt zu mir, die ihr euch abmüht. Ich will euch Ruhe und Frieden geben. Und übrigens: Ich schaue auf niemanden herab!» (siehe Matthäus 11,28-30)

Glücksaufgabe

Wo fühlst du dich gesehen als einzigartiger Mensch? Wer liebt dich, weil du bist und nicht weil du – besonders gut oder schlecht – performst?

Und wie würde es aussehen, wenn du Jesus als Vorbild nehmen würdest im Umgang mit deinen Mitmenschen?

Ich träume tatsächlich von einer inklusiven Gesellschaft, wo wir die Kategorien, die Menschen einteilt in Gesunde & Behinderte, Starke & Schwache, Richtige & Falsche überwinden! Es gibt nur Menschen – Menschen mit ihrer Einzigartigkeit! 

Darüber habe ich letzten Sonntag an der gms Matinée gesprochen. Hier kannst du meinen Vortrag «Schwachheit zulassen» nachhören.