Grenzenlose Freiheit?

Die Freiheit besteht darin, alles tun zu dürfen,
was einem anderen nicht schadet.

(aus der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte)

„Über den Wolken, muss die Freiheit wohl grenzenlos sein…“, philosophierte Reinhard Mey in seinem erfolgreichsten Lied aus dem Jahr 1974. Nicht nur über den Wolken, sondern auch in Berns Gassen, hätte die Freiheit grenzenlos zu sein. Darum zogen kürzlich mehr als 10’000 Jugendliche unter dem Motto „Tanz dich frei“ durch Berns Innenstadt.

Ich als ahnungsloser Landmensch war ausgerechnet an diesem sommerlichen Abend mit meiner Frau in Bern. Auf der Suche nach einem Gratisparkplatz war ich erstaunt, dass der Schützenmatte-Parkplatz (bei der „Reithalle„) fast leer war. Erst die vielen Parkverbotstafeln erinnerten mich daran, dass ich in der Zeitung etwas von einer illegalen Demo gelesen hatte. Als wir nach dem Essen irgendwo auf einem Platz noch einen Kaffee trinken wollten, machte sich der Umzug gerade auf den Weg: Was auf uns anfänglich wie ein friedliches Konzert wirkte, stimmte uns bei genauerem Betrachten ziemlich nachdenklich (vor allem, was den Alkoholkonsum und die destruktive Stimmung betraf).

Im Nachgang wurde viel über diesen Umzug geschrieben, debattiert und kommentiert. Grenzüberschreitungen von Jugendlichen und der Schrei nach Freiheit sind wohl so alt, wie die Menschheit selbst. Genauso wie die Reaktion der älteren Generationen darauf. Doch mich interessiert hier weniger die Jugendfrage als die Gesellschaftsfrage. Sind wir überhaupt fähig und gewillt miteinander oder wenigstens nebeneinander zu leben, ohne das Wohlbefinden des anderen zu beschneiden? Mit andern Worten: Ist unser Egoismus so gross, dass wir auf Kosten anderer leben?

Freiheit muss gelernt sein

„Mir scheint, dass unsere individualistisch geprägte Gesellschaft erst noch lernen muss, wie eine grosse Zahl von Menschen im öffentlichen Raum miteinander umgeht, ohne dass die Rechte der Einzelnen beschnitten werden.“ Dies sagte Thomas Kessler von der Kantons- und Stadtentwicklung des Kantons Basel-Stadt gegenüber der NZZ am Sonntag (Artikel „Party aus Protest“, NZZ am Sonntag, 10. Juni 2012).

Mir scheint, dass es hier um den alten Grundsatz aus der Französischen Revolution und der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte geht, der besagt, dass persönliche Freiheit nur soweit möglich ist, als dass die Rechte und die Freiheit des anderen nicht beschnitten würden. (Siehe Zitat am Anfang dieses Blogartikels.)

Aber was heisst das im täglichen Zusammenleben? Und was heisst das in einer globalisierten Welt? Missachten wir nicht auch diesen Grundsatz, wenn wir unseren Reichtum auf Kosten anderer Länder anhäufen? In Teilen dieser Welt werden Menschen ausgebeutet, damit wir unseren Wohlstand vergrössern können. Leben wir da nicht eine Freiheit, die einem anderen schadet?

Ich glaub nicht, dass ich hier Antworten geben kann. Weder auf die Frage, wie eine für alle Beteiligte zumutbare Lösung betreffend Jugendkultur und Nachtleben in den Grossstädten aussehen könnte, noch auf die Problematik, dass unser Wohlbefinden nicht selten auch auf Kosten des Wohlbefinden eines anderen geht.

Doch ich will uns zu einer Denkpause (einer Pause vom Alltagsgeschäft, in der wir denken und nicht eine Pause vom Denken!) aufrufen, in der wir uns selbst prüfen und fragen: Wo lebe ich auf Kosten meiner Mitmenschen? Meiner Mitmenschen in der Familie, in der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz, im Ausgang – und auch auf Kosten meiner Mitmenschen in der dritten Welt.


Mein Blogbeitrag dieser Woche dreht sich um den LebensbereichGesellschaft“.

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